Ergebnisse einer Recherche von SACHSEN KAUFT FAIR

Um im Rahmen der Novellierung des sächsischen Vergabegesetzes zu verdeutlichen welche Produktionsbedingungen vorherrschen, wenn der Freistaat bei seinem Einkauf keine Umwelt- oder Sozialstandards berücksichtigt, hat die Allianz Sachsen Kauft Fair Recherchen zu den Arbeitsbedingungen in der rumänischen Textil-Fabrik SIOROM in Auftrag gegeben. Die Fabrik gehört zum belgischen Textilkonzern SIOEN, von dem auch das sächsische Innenministerium Produkte bezieht. Das börsennotierte Unternehmen hat sich auf professionelle Schutzkleidung spezialisiert. In der Fabrik in Iași arbeiten aktuell 350 Mitarbeitende,[1] welche ausschließlich für SIOEN produzieren. Eine Forscherin sprach im Frühjahr 2021 mit mehreren Näherinnen über die Bedingungen in der Fabrik. Aus Angst vor Repressionen möchten die Arbeiterinnen anonym bleiben.

 

SIOROM – Ein einzelner Fall aber bei weitem keine Ausnahme

Das Innenministerium hat für die Polizei Sachsen in den Jahren 2019 und 2020 verschiedene Schutzanzug-Jacken und -Hosen im Gesamtwert von 6.234,80 Euro von SIOEN erworben.[2] Diese Beschaffung ist nur ein Bruchteil des gesamten Textilbedarfs des sächsischen Innenministeriums. Für die sächsische Polizeibehörde wurden allein zwischen 2018 und 2020 9.148.054 Millionen Euro für Dienst- und Schutzbekleidung ausgegeben. Für Bekleidung in den sächsischen Justizbehörden kamen im gleichen Zeitraum noch einmal 431.465 Euro hinzu.[3] Davon wurden 42% der Kleidung in Osteuropa hergestellt.[4] Der Fall von SIOROM steht damit stellvertretend sowohl für die Zustände in vielen Textilfabriken in Ost-Europa und Asien, die in allen Einzelheiten längst bekannt sind[5], als auch für den enormen Textilbedarf – und damit die Marktmacht und Verantwortung – der sächsischen Behörden.

 

Teilweise Verbesserung durch öffentlichen Druck

Bereits 2020 berichteten mehrere belgische Zeitungen[6] über die schlechten Zustände in der Fabrik. Dabei wurde vor allem der damalige niedrige Netto-Lohn von 236 Euro kritisiert, welcher weit unter der früheren nationalen Armutsgrenze von 313 Euro für einen Single-Haushalt lag.[7] Die meisten Mitarbeiterinnen mussten Kredite aufnehmen, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Außerdem berichteten die Frauen von Gesundheitsschäden wie Atemwegserkrankungen, Kreislaufproblemen und Hautirritationen auf Grund fehlender Arbeitsschutzmaßnahmen und mangelnder Belüftung. Darüber hinaus beklagen Sie menschenunwürdige Behandlung, wie Einschüchterungen und Erniedrigungen durch Vorgesetzte.

Seit den letzten Untersuchungen im Jahr 2018 hat sich laut den Arbeiterinnen die Situation in der Fabrik teilweise gebessert. Sowohl das Verhalten des Vorgesetzten und die hygienischen Standards als auch die Zulagen beim Erreichen von Produktions-Quoten und die regelmäßigere Bereitstellung von Essens-Gutscheinen für die Mittagspause bewerten die Näherinnen positiv. Zwar wurde die Prämien für die Quoten erhöht, jedoch sind diese weiterhin so hoch angesetzt, dass keine Näherin diese bisher innerhalb der regulären Arbeitszeit erreicht hat. Stattdessen bekommen die Frauen einen Bonus von 23 – 50 Euro, wenn sie 46 – 66 Prozent der Quote erfüllen.  Der Manager schreit die Arbeiterinnen nicht mehr an und schüchtert sie auch nicht mehr durch Schläge auf die Schließfächer oder andere Möbel ein. Damals war es den Frauen nicht gestattet, miteinander zu reden oder während ihrer Schicht das Telefon oder sogar die Toilette zu benutzen.

Auch die Sauberkeit innerhalb der Fabrik hat sich verbessert. Mittlerweile müssen die Näherinnen die Fabrik nicht mehr außerhalb ihrer Arbeitszeit unbezahlt reinigen. In Folge der Pandemie-Maßnahmen wurden Mindesthygienestandards wie Seife auf den Toiletten und Desinfektionsmittel eingeführt. Zusätzlich fanden in den letzten beiden Jahren zwei Sozialaudits statt. Die teilweisen Verbesserungen sind auf die Arbeit der Kampagne für Saubere Kleidung zurückzuführen, welche die Bedingungen recherchiert und öffentlich gemacht hatte.

 

Ohnmächtig in der Fabrik – mangelnder Arbeits- und Gesundheitsschutz und menschenunwürdige Behandlung

 Trotz der Verbesserungen leiden die Frauen weiterhin sowohl unter den extrem hohen Temperaturen innerhalb des Gebäudes als auch unter den mangelnden Arbeitsschutzmaßnahmen. Zwar wurde die Luftzirkulation in einigen Bereichen der Fabrik verbessert, doch das Gebäude heizt sich im Sommer weiterhin extrem auf. Eine Näherin beschrieb die Fabrik als Ofen, in dem es unerträglich heiß wird. Allein im Sommer 2021 berichtete eine Frau von drei Kolleginnen, die auf Grund der Hitze während der Arbeit ohnmächtig wurden.

Zusätzlich leiden einige Näherinnen, die mit schädlichen Chemikalien arbeiten, unter Hautausschlag und Atemwegserkrankungen. Obwohl die Frauen auf die Erkrankungen mehrmals hingewiesen und Schutzmaßnahmen gefordert haben, wurden Atem-Schutzmasken und Handschuhe erst im Rahmen der Eindämmung der Pandemie bereitgestellt. Eine Näherin berichtete, dass ihr Ausschlag und ihre Atemwegsbeschwerden aufgrund der Schutzausstattung zurückgegangen sind. Dies lässt einen Zusammenhang der Erkrankungen mit dem ungeschützten Umgang mit den Chemikalien vermuten.

 

Armutslöhne – Das größte Problem der Arbeiterinnen

 Die mit Abstand größte Sorge bereitet den Frauen weiterhin ihr extrem niedriger Lohn. Die Näherinnen verdienen monatlich 467 Euro brutto, was dem rumänischen Brutto-Mindestlohn entspricht.[8] Nach Abzug der Steuern und Sozialversicherungen bleiben den Frauen lediglich 282 Euro netto. Um von ihrem Gehalt leben zu können, leisten die Näherinnen Überstunden oder nehmen Nebenjobs – wie Haushalts- oder Feldarbeiten – an. Zusätzlich bauen viele Frauen selbst Obst und Gemüse an oder betreiben Viehzucht, um die Ausgaben für Lebensmittel gering zu halten. Wo möglich werden die Arbeiterinnen von ihren Familien unterstützt – entweder in Form von Lebensmitteln oder durch Kredite. Die Beschäftigten sind grundsätzlich überschuldet und schulden mit den Lohnzahlungen regelmäßig um.

Die von der EU definierte nationale Armutsgrenze lag 2020 in Rumänien für Singles bei monatlich 386 Euro und für eine vierköpfige Familie bei monatlich 811 Euro.[9] Das bedeutet, dass die Näherinnen trotz ihrer Vollzeitstelle bei SIOROM als erwerbsarm gelten. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass viele Frauen mit ihrem Einkommen eine mehrköpfige Familie versorgen müssen. Dies bedeutet auch, dass jede Person, die den rumänischen Brutto-Mindestlohn verdient und keine weiteren Einnahmen hat, netto unterhalb der rumänischen Armutsgrenze liegt.

Noch deutlicher wird das Ausmaß der Ausbeutung, wenn man den Verdienst der Arbeiterinnen mit dem Basis-Existenzlohn der Kampagne für Saubere Kleidung vergleicht. Solch ein existenzsichernder Lohn deckt die Grundbedürfnisse – also Kosten für Ernährung, Kleidung, Wohnung, Mobilität, Hygiene, Kultur und Erholung – und erlaubt Rücklagen zu bilden, mit denen etwa Lohnausfälle während der Pandemie überbrückt werden können.[10] Laut Berechnungen der Kampagne für Saubere Kleidung lag der Basis-Existenzlohn in 2018 in Rumänien bei 1.029 Euro pro Haushalt.[11] Der Lohn der Näherinnen entspricht also gerade einmal 27 Prozent des Basis-Existenzlohns.

Bei SIOROM – wie in vielen anderen Textilfabriken – gibt es keine Gewerkschaft, die für die Arbeiterinnen bessere Löhne und Arbeitsbedingungen aushandeln würde. Das ist der Grund, warum trotz akuten Arbeitskräftemangels in der rumänischen Bekleidungsindustrie die Konditionen nach wie vor so schlecht sind.

 

Rechtliche Einordnung der Ergebnisse

Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte legt fest: „Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung (…).“ In Artikel 7 des UN-Sozialpakts erkennen die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen das Recht auf ein angemessenes Arbeitsentgelt an, das „einen angemessenen Lebensunterhalt für [die Arbeitnehmenden] und ihre Familien“ sichert.[12] Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat die Forderung nach einem „zur Bestreitung des Lebensunterhaltes angemessenen Lohn“ direkt in der Präambel ihrer Verfassung verankert. Auf europäischer Ebene schreiben Artikel 31 der Europäischen Grundrechtecharta und Artikel 4 der Europäischen Sozialcharta sowohl gerechte und würdige Arbeitsbedingungen als auch das Anrecht auf einen angemessenen Lohn fest. Die 2017 beschlossenen europäischen Säulen sozialer Rechte widmen dem Thema fairer Arbeitsbedingungen sogar ein ganzes Kapitel, in welchem ebenfalls gerechte Entlohnung festgeschrieben ist.

Rechtliche Vorgaben zu Arbeits- und Gesundheitsschutz findet man sowohl in der Verfassung der ILO, in vielen ILO-Konventionen als auch in Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Erstere erklärt den „Schutz der Arbeitnehmer gegen allgemeine und Berufskrankheiten sowie gegen Arbeitsunfälle“ als wesentlichen Bestandteil sozialer Gerechtigkeit. Letztere garantiert das „Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“. Darüber hinaus ist das Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen in Artikel 7 des UN-Sozialpakts und Artikel 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert.

 

Sowohl Deutschland als auch Rumänien haben sämtliche der genannten Abkommen ratifiziert bzw. gezeichnet. Beide Staaten sind damit in das internationale und europäische Menschenrechtsschutzsystem eingebunden und haben sich zur Wahrung dieser Rechte bekannt. Die Rechercheergebnisse lassen jedoch starke Zweifel aufkommen, ob hier die Menschenrechte auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen und auf eine gerechte Entlohnung und einen damit einhergehenden angemessenen Lebensstandard gewahrt sind. Mit dem, was wir in Deutschland als unseren menschenrechtlichen Besitzstand verstehen, sind die Verhältnisse in der Fabrik in Iași jedenfalls kaum vereinbar. Auch der Freistaat Sachsen sollte sich seiner menschenrechtlichen Verantwortung bewusst werden und bei der Verwendung öffentlicher Gelder auf deren Einhaltung achten.

[1] Rumänisches Finanzministerium: SIOROM SRL – Registierungscode 30626899, aktuellste Daten vom Dezember 2019.

[2] Kleinen Anfrage „Technische und textile Produkte der Firma Sioen“, Drs. 7/2174 vom 22.05.2020.

[3] Lt. Kleiner Anfrage der Abgeordneten Antonia Mertsching, Drs. 7/16215 vom 08.06.2021.

[4] Die Herkunftsländer umfassen Albanien, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Polen, Rumänien, Ukraine, Tschechen und Weißrussland. Lt. Kleiner Anfrage der Abgeordneten Antonia Mertsching, Drs. 7/6216 vom 09.06.2021

[5] Siehe: https://saubere-kleidung.de

[6] The Brussels Times: “Uniforms of Belgian army & police produced by underpaid workers in Romania”, 08.07.2020; RTBF: „Les uniformes belges de l’armée et de la police fabriqués par des travailleurs roumains sous-payés: une ONG dénonce, l’entreprise se défend “, 08.07.2020; KNACK: “Sociale dumping: hoe de Belgische politie- en legeruniformen in Roemenië worden gemaakt”, 08.07.2020; DW: “România Polițiștii europeni poartă uniforme croite la Fălticeni, pe salarii de nimic”, 09.07.2020.

[7] At-risk-of-poverty threshold – EU-SILC survey; European Union Statistics On Income And Living Conditions (EU-SILC), 
https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/tessi014/default/table?lang=en, Daten von 2018 entsprechend des Erhebungszeitraums der Lohndaten.

[8] Eurostat: Monthly minimum wages 2020, 
https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do

[9] European Union Statistics On Income And Living Conditions (EU-SILC),
https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/tessi014/default/table?lang=en 

[10] https://saubere-kleidung.de/2021/04/existenzlohn-europa/

[11] Clean Clothes Campaign, 2020: Richtwert für einen Europäischen Basis-Existenzlohn.

[12] https://www.sozialpakt.info/